Der stumme Barbier

Für einen Schutzwall gegen die Osmanen, versuchte die Habsburg Monarchie ihr Reich bis tief in die Pannonische Ebene hinein, zu besiedeln. Ein gewaltiger Aufwand der über Jahrhunderte andauern würde.

Einige der vielen Auswanderer hatten keine andere Wahl, wie zu fliehen. Um der Ungerechtigkeit und der Macht eines Fürstbischofs und seinem Kleriker zu entkommen, wendete Johann sich hilfesuchend an seinen Freund Thaddäus, einem Dorfpfarrer. Der Entschluss für immer wegzugehen, vermochte Johann seinem alten stummen Freund nicht zuzumuten. Doch dieser gab Johann und der jungen Hauswirtschafterin die Möglichkeit, den weiten Weg in das Kronland Österreich-Ungarn zu entfliehen. Sie mussten sich den schwierigen Umständen und den Strapazen einer langen Reise stellen, die mitunter nicht immer reibungslos ablief.

Die Hoffnung alle Widerlichkeiten zurückzulassen wurde ihnen nicht gegönnt. Mit seinem Bluthund, einem blonden Holländer, lauerte der ehemaliger Kleriker Justus von Breitenbach ihnen überall auf.

Eine gute Portion an Phantasie und ein paar lyrische Zeilen, runden das Buch in eine interessante zeitreisende Geschichte um das Jahr 1723 ab.

Leseprobe „Winter 1723“

Die Stute war sichtlich aufgeregt, denn sie zitterte am ganzen Leib. Johann Mertens versuchte, so gut er konnte, die Stute zu beruhigen und scheinbar wirkte seine ruhige sanfte Stimme. Der junge Stallbursche Michel, der wie festgeklebt am Pfosten stand, hatte noch mehr Angst als die Stute selbst. Erstaunt das der Michel noch immer dort stand, musste Johann sich diesmal etwas lauter räuspern, damit der Bengel mal näher an die Stute rankommt. Johann hatte es geschafft, auch ohne große Hilfe, dass Fohlen heil aus der Stute zu bekommen. Jetzt war er dabei, die Eihaut von dem Fohlen zu entfernen und letztendlich auf die Nachgeburt zu warten. Er lächelte, als Michel seine Würgegefühle sichtlich nicht unter Kontrolle halten konnte. Aber so jung er sein mochte, ein Stallbursche muss da durch. Das ganze Zeug muss auf die Miste, wo dann auch die Füchse ihr Abendmahl ungezwungen hinunterschlingen konnten. Mit seiner großen Hand streichelte Johann weiterhin zart über den Rücken der Stute, doch seine Gedanken gingen fluchtartig zu seinem alten Freund und Meister Esiar, der immer dabei war, besonders bei einer erstmaligen Geburt. Meister Esiar, ein etwas älterer Mann, war der Pächter dieses Gutes. Seit einer Weile schon ging es ihm nicht gut. Wie auch heute, blieb er lieber allein in dem großen Sessel.

Gemächlichen Schrittes näherten sich indes drei Gestalten auf ihren Pferden, durch das einzige Tor auf dem Gutshof. Der Hof sah trostlos aus, wie leergefegt. Als ob er den Fremden sagen würde: »Ihr seid hier nicht willkommen.« Sicher war nur eins! Überall wo diese Männer auftauchten, gingen sie nie mit leeren Händen fort. Denn ob erwünscht oder nicht, es gab immer und überall was zu holen. Vor dem Gutshaus angekommen, blieb nur ein Reiter hoch zu Ross. Justus von Breitenbach schaut sich kopfnickend die Eingangstür mit ihrem Rundbogen als einladende Öffnung an. Links wie rechts waren sehr hohe Fenster, die fast bis zur Regenrinne reichten, sowie ein fast senkrechter Dachstuhl mit kleinem Fenster. Seit hundert Jahren stand das Gutshaus und in der Tat, in einem sehr guten Zustand.

Er könnte noch lange hier oben auf dem Ross bleiben und sich gönnerhaft dem Anblick widmen, nur eins hinderte ihn daran, seine Kapuze. Gemächlich stieg er, von seinem langsam unruhigen Pferde, ab. Mit beiden Händen fasste er behutsam die Kapuze und zog sie von seinem Kopf. Die Augenbrauen unter seinem Birett und der Tonsur eines Klerikers hoben sich merklich nach oben. Wohlwollend streicht er sich über seinen vollen Bart und dreht sich um. Sein Blick wanderte über den Hof mit seinen Bestallungen, Schmiede, Geräte, Getreide- und Heuschuppen und das Gesindehaus. Allesamt in einem sehr guten Zustand. Etwas störte ihn! Eine alte blätterlose Eiche stand mitten auf dem Hofplatz und trotzte dem eiskalten Blick des schwarz gekleideten Mannes.
Seine Soutane leicht angehoben sprang er behäbig die vier Stufen bis zur Eingangstüre hoch. Verächtlich schaute er auf die Zugglocke und ohne zu zögern, trat sein Stiefel immer wieder gegen die Eingangstüre.

Meister Esiar, den alle so nannten, hörte, wie das Hämmern in seinem Kopfe immer lauter wurde. Fängt es schon wieder an. Für kurze Zeit waren sie verschwunden, die heftigen Kopfschmerzen. Seit geraumer Zeit plagten ihn immer wieder wiederkehrende Kopfschmerzen und so kam es auch, dass er sich wieder ausruhen musste. Das Klopfen war nicht in seinem Kopf. Es kam von der Türe, die mehrmals zitterte, wenn jemanden dagegentrat. Er wollte erst gar nicht aufstehen, doch das Klopfen hörte einfach nicht auf. Mit schleppenden Schritten nähert sich Meister Esiar der Eingangstür und staunte nicht schlecht. Träumte er oder war der Teufel schon dabei, ihn abzuholen?
Zu dieser Jahreszeit, eine Stunde nach Mittag, war Ruhezeit im Gutshaus angesagt. Vorausgesetzt die Arbeiten waren getan. Die Köchin und ihre Küchenhilfe waren für das Essen, kurz in die Speisekammer im Keller verschwunden. Die alte Hauswirtschafterin Marie, lag etwas angeheitert in ihrem Bett. Katharina, die neue Hauswirtschafterin war voll und ganz dabei, einen Überblick über das Durcheinander ihrer Vorgängerin zu bekommen. Die betagte Marie schaffte es nicht mehr, die gewohnte Ordnung zu halten und so entschloss sich Meister Esiar, Katharina, aus einem Nonnenkloster zu holen. Bis vor ein paar Wochen kannte sie den alten Mann gar nicht persönlich, nur aus den zahlreichen Briefen, die er ihr schon jahrelang schickte. Oft waren es nur kurze Briefe, die nur darauf hindeuteten, dass jemand für sie da war. Nur einmal erwähnte der Schreiber, er sei ein Onkel mütterlicherseits. Als sie ihren Onkel zum ersten Mal sah, stand vor ihr ein Mann mit grauem Haar. Seine Erscheinung war gepflegt und recht ordentlich. Seit sie denken konnte, in den 22 Jahren kam sie nie aus dem Nonnenkloster heraus. Die Spezies Mann war ganz fremd.

Eine alte Nonne sagte ihr einmal: »Liebes Kind, du hast einen guten Gönner und vielleicht musst du nicht immer in den grauen, einsamen Mauern leben.«

Damals dachte sie, dass sie nie ihr vertrautes Heim verlassen werde. Und jetzt war es geschehen. Je älter Katharina wurde, umso mehr verspürte sie die missbilligenden Blicke mancher Nonnen. Es war auch nicht ihr Ziel, ein Gelübde abzulegen, auch seitens der Äbtissin gab es nie eine Aufforderung. Den Tagesablauf hatte sie genauso zu befolgen wie alle hier im Kloster. Eine Ausnahme hatte sie: Von der Äbtissin ausgewählte Bücher durfte sie lesen, aber keines behalten. Das war ihre ganze Welt, die sie kannte. Jetzt kam ein Fremder, der sie mit einer Kutsche abholte und den ganzen Weg kein Wort mit ihr sprach. Mittlerweile wusste sie, dass ihr Onkel stumm war und unten in der Wohnstube gemütlich in einem breiten Sessel saß.

Als Michel mit dem leeren Holzschubkarren, gehetzt zurückkam, stammelte er außer Atem. »Verwalter, da, da sind drei Pferde und zwei Männer. Nur zwei Männer und drei Pferde.« »Schon gut! Wie sehen die zwei denn aus?«, wollte Johann wissen? Michel glotzte ihn an und schnappte wieder nach Luft und meinte. »Nicht von hier.« »Geht´s nicht genauer! Ich kann hier noch nicht weg. Geh und frage, was sie hier wollen.«

Dem Michel war das Ganze nicht geheuer, aber er konnte nichts anderes machen als zu gehorchen, wollte er nicht den Arsch versohlt bekommen. Zaghaft bewegte er seine dünnen Beine, die lieber jetzt als später weglaufen würden. Aber wohin? Er versuchte, so erwachsen wie nur möglich zu klingen, indem er seiner jugendlichen Stimme einen tiefen Ton gab. »Hey ihr beiden, was macht ihr hier? Das ist ein Gutshof und kein Dorfladen um herum…« »Seid gegrüßt, Bürschchen.«, fiel ihm der Blondschopf ins Wort. »Hast du hier das sagen oder nur im Stall?« Die verbale Ohrfeige saß und das Gelächter hinterher war noch schmerzvoller. Jetzt wurde ihm bewusst, dass er im Stall mehr Geborgenheit und Zuneigung von den Tieren bekam als von diesen beiden. »Sag deinem Stallmeister, er soll dir den Dreck von deinen Kleidern abkratzen, bevor du mit uns redest.« Das hämische Lachen der beiden hallte von den Wänden des Hofes.

Kaum aus dem Stall herausgetreten, rief Johann. »Aber meine Herren, wir haben hier keinen Stallmeister. Schaut mich an, ich habe das Zeug auch auf mir. Wenn ihr denkt, dass man das Zeug abkratzen kann, stehe ich euch gerne zur Verfügung. Bis jetzt ging es nur mit waschen.« »Wenn du nicht der Stallmeister bist, dann bist du dem jungen Burschen hier, sein Gehilfe. Ich hätte es mir doch denken können. Noch habt ihr Zeit, uns aus den Augen zu gehen.« Kaum hatte der Blonde diese Worte aus seinem krächzenden Hals heraus, war Johann nahe bei den beiden und schob Michel hinter sich.

»Ihr kommt ungeladen auf das Hofgelände und benehmt euch wie Strolche. Ich kann nur sagen, dass ihr hier nicht willkommen seid. Es wäre gut, so schnell wie möglich vom Gutshof zu verschwinden. Und jetzt meine Frage: »Was wollt ihr hier?« Eine blecherne Stimme von der Eingangstür des Gutshauses kam den beiden zuvor. »Bemüht euch nicht! Wir sind gleich weg.« Die Antwort war an Johann gerichtet, der jetzt erst den dritten Mann sah. Mit seiner Soutane und dem Birett glich er einem Pfarrer, doch der Haarschnitt und der Bart passten nicht dazu. Auch seine steifen Bewegungen verbargen etwas unter dem schwarzen Rock. Im Handumdrehen verschwanden diese drei Gestalten wieder aus dem Hof und ließen den Verwalter verdutzt stehen.

Was war denn das? Zu Michel gewandt mit einem leichten Klaps auf die Schulter sagte der Verwalter. »Michel, schau mal nach dem Fohlen, ob es schon steht. Dann zieh dich um und komm in das Esszimmer. Heute hast du dir eine extra Portion Essen verdient.« Michel strahlte über sein ganzes Gesicht, wenn man von dem mit Blut, Schleim Dreck und Tränen verschmierten noch etwas erkennen konnte. Doch für Michel war es das größte Lob überhaupt. Die Kälte der Dämmerung fraß die letzten warmen Sonnenstrahlen dieses aufregenden Tages. Auch Johann, in seinem grob gewebten Hemd, das durchnässt war, fror jetzt wie Espenlaub. Er musste schleunigst raus aus den Kleidern, denn bestimmt wartete Esiar schon auf ihn, um über das Ergebnis dieses Besuches zu berichten.

Viel zu spät bemerkte die neue Hauswirtschafterin, was sich in der Wohnstube abgespielt hatte. Erst als die Eingangstüre zuknallte, erschrak Katharina von ihrer Arbeit auf, ging nach unten und da sah sie ihren Onkel am Boden liegen. Katharina, die sich über ihren Onkel beugte, hatte Tränen in den Augen. Die Platzwunde und das herunterlaufende Blut, tropfte langsam auf den gebohnerten Dielenboden. Sie hatte nur ihr fein gesticktes Taschentuch, das sie schnell auf die Wunde presste. Johann der in frischer Kleidung schon im Raum stand, schaute mit versteinerter Miene auf die neue Hauswirtschafterin. Sein schulterlanges Haar war mit einer Schnur nach hinten zusammengebunden. Sein junges Gesicht, von Wind und Wetter gebräunt, mit dem kräftigen Nacken, zuckte kurz zusammen. Alles an ihm war angespannt bis zu seinen Haarwurzeln hin.


Mathias Kaiser

Geboren 1959 und aufgewachsen in Jahrmarkt (rumänischer Teil des Banats), erinnert sich an so manche wichtigen Dinge im Leben. Ein paar Ausschnitte aus seiner früheren Jugendzeit.